EDITORIAL: Osteopathie quo vadis - Teil 1: Heilwesen im Wandel


Editorial

Aus dem Newsletter Feb 2024, Nr. 246. © JOLANDOS e.K. 2024

Osteopathie quo vadis?

Teil 1: Heilwesen im Wandel


Liebe Freundinnen und Freunde von JOLANDOS,

Wohin wird es mit der Osteopathie gehen?

Hierzu möchte ich einige Gedankenspiele anbieten, die ich aufgrund der Komplexität und Bedeutung des Themas für die Osteopathie auf drei Editorials verteilen werde:

  1. Der große Rahmen – Heilwesen im Wandel
    Ein spekulativer Blick in die bereits beginnende Zukunft
  2. Der große Brücke – Philosophie der ursprünglichen Osteopathie
    Spannende Verbindungen zwischen dem 'alten Zeug' und dem zukünftigem Heilwesen.
  3. Das große Pensum – Begriffsklärung und historische Forschung
    Warum die Osteopathie ohne solide Geschichtsforschung und philosophisch methodische Begriffsklärung ihre Zukunftsfähigkeit verlieren wird.

Beginnen wir mit Teil 1: Der große Rahmen – Heilwesen im Wandel

Wir alle befinden uns aufgrund der digitalen Revolution am Beginn tiefgreifender kultureller Umbrüche.

Deutlich erkennen wir dies an der Sprache. Organisationsbegriffe wie Autorität, Wettkampf, Zentralisierung, Hierarchisierung, Abgrenzung, Monopolsicherung etc., machen neuen Begriffen Platz: interdisziplinär, community, Team, Netzwerk, dezentral, flache Hierarchien, holistisch, komplex, inter-, trans- etc. Monopolistisches, isolationistisches und kompetitives Denken und Handeln ist zwar noch weit verbreitet, hat es aber zunehmend schwerer, im 'neuen Milieu' zu überleben (was die immer aggressiveren Bestandsschutz- oder Expansionsbestrebungen der Vertreter kompetitiver Denkschulen erklärt)

Auch im Heilweisen hat bereits eine radikale Transformation begonnen. Ein Aspekt dieser Transformation lautet post-professionalism ('Nachberuflichkeit'). Hier geht es im Kern um folgende Einsichten:

  • Heilberufe sind historisch gesehen relativ neue Antworten auf Probleme, die seit den Anfängen der Menschheit bestehen.
  • Sie sind weder notwendigerweise die besten noch die einzigen Lösungen für diese Probleme.
  • Die Berufe waren im funktionalistischen Sinne des Wortes nie wirklich altruistisch und gemeinwohlorientiert, sondern waren immer hauptsächlich darauf bedacht, ihre eigenen Professionalisierungsprojekte voranzutreiben.
  • Viele lebensfähige Alternativen entstehen, wenn berufliche Monopole erodiert werden, weil die Berufstände selbst oft die größten Hindernisse für radikale Reformen sind. (1)

Ein radikaler berufspolitischer Paradigmenwechsel ist also bereits im Gange. Das traditionelle Modell beruflicher Abgrenzung einzelner Heilberufe zur Sicherung von Behandlungsmonopolen wird zunehmend zum 'Bremsklotz' für zukunftsfähige Entwicklungen im 21. Jhdt. Hierzu die historischen Hintergründe:

Mit dem Aufstieg der Patrizier in den europäischen Handelsmetropolen während der Renaissance, kam es nicht nur zu einer zunehmenden Technisierung der Arbeitsprozesse, sondern auch zu einer immer stärkeren Zergliederung selbiger. Beides führte zu einer enormen Effizienz- und damit Profit-Steigerung und bewirkte, dass sich mit immer spezialisierteren Kompetenzen, immer neue Berufsgruppen herausbildeten, die überwiegend kompetitiv ausgerichtet waren. Dieses Phänomen beschleunigte sich im Zuge der industriellen Revolution(en) und erfasst das Heilwesen der westlichen Welt spätestens Mitte des 20. Jhdts. Karzinogene Wucherungen von Heilberufen, Heilverfahren und Pathologien waren die Folge, mit der logischen Konsequenz, dass die Gesundheitssysteme in fast allen Industriestaaten auf einen finanziellen Kollaps zurasen.

Um diese Talfahrt zu stoppen, vertraut man derzeit aus Mangel an Visionen und Mut noch dem monokausalen Denken der Industriezeit: Mit evidenzbasierten Wirksamkeitsstudien im Sinn 'dieses Verfahren wirkt bei dieser Pathologie', will man 'unseriöse' Heilströmungen 'chirurgisch' beseitigen. Wie naiv diese Idee ist, zeigt die Realität: Studien werden massenhaft zum Erlangen berufs- oder marktpolitischer Ziele in Design und/oder Auswertung 'verzerrt' (z.B. durch da beliebte 'p-hacking'). Ein klassisches Eigentor, denn eine Flut oftmals (auch aus anderen Gründen) zweifelhafter Wirksamkeitsnachweise überschwemmen seither die Zulassungsgremien. Statt Kostendämpfung nimmt durch diese 'Regulation' die Kostenexplosion sogar noch zu.

Gut möglich, dass daher noch in dieser Generation, sowohl monokausale, wie auch auf Wirksamkeit angelegte Studien zunehmend durch komplexe (interdisziplinäre) Wirtschaftlichkeitsstudien als wichtigstes Zulassungskriterium ersetzt werden. Nicht mehr Fragen wie etwa Welches Verfahren wirkt bei welcher Pathologie? oder Welche Berufsgruppe behandelt am günstigsten?, sondern nur die Frage Welcher interdisziplinäre Ansatz ist am günstigsten? wäre dann wissenschaftlich zu beantworten. Praktisch für Wirtschaft und Politik: Ganz nebenbei liefern komplexe Wirtschaftlichkeitsstudien auch auf indirektem Weg Wirksamkeitsnachweise (günstiger = wirksamer). Und noch mehr: die zur interdisziplinären Zusammenarbeit notwendige kooperativ statt kompetitive Einstellung verbessert das Umgangsklima zwischen den sich sonst bekämpfenden Strömungen (vom Gesundbeten bis zur Gentherapie müssen aufgrund des interdisziplinären Imperativs ja nun alle an einen Tisch!). Und letztlich wird dieser Ansatz der Sichtwiese des Menschen als 'ganzheitlichem' Wesen wesentlich gerechter. Aufgrund dieser überzeugenden Argumente, dürfte nach dem oben beschriebenen berufspolitischen Paradigmawechsel also auch ein fulminanter wissenschaftspolitischer Paradigmawechsel bevorstehen.

Es wäre bezogen auf eine Zukunftsfähigkeit für die Osteopathie klug für die VertreterInnen insbesondere der institutionellen Osteopathie, sich eher früher als später auf diese beiden Wechsel – kooperative statt kompetitive Heilberufe & interdisziplinäre Wirtschaftlichkeitsstudien statt monokausale Wirksamkeitsstudien – auszurichten!

Das Hintergrundbild des Gesamtthemas ist nun in groben Zügen fertig. Im nächsten Editorial werden wir dann zunächst erforschen, welche Kriterien Heilberufe bzw. Heilkundige erfüllen müssen, um nach den o.a. beschriebenen Paradigmenwechseln zukunftsfähig zu bleiben. Und wir werden sehen, warum hier gerade die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie eine ebenso überraschende wie tragende Rolle spielen könnte.


Bis zum nächsten Newsletter und wie immer....

Viel Freude und Erfolg bei Ihrer Osteopathie!



Ihr
Christian Hartmann



Quelle:

(1) Nicholls D. What _is_ wrong with osteopathy? A response to Thomson and MacMillan. in: IJOM – International Journal of Osteopathic Medicine, March 2024; 51: 3–8.](https://www.journalofosteopathicmedicine.com/article/S1746-0689(23)00038-X/abstract). Dt. Übers. ChatGPT, 07.05.24, Alle Anmerkungen und Hervorhebungen durch mich)