EDITORIAL: Zeit der Besinnung!


Editorial

Aus dem Newsletter Dez 2022, Nr. 241. © JOLANDOS e.K. 2022

Zeit der Besinnung


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

Herzlichen

bevor ich zu meinem Editorial komme, möchte ich mich gegen Ende des Jahres wie immer zuallererst für die vielen interessanten Gespräche mit Ihnen bedanken. Dieser für mich so wertvolle Austausch, auch Ihr schon über 20 Jahre währender treuer Erwerb meiner Bücher, sind immer wieder die wichtigste Quelle für die Freude an meiner Arbeit. In diesem Sinn nochmals ein ganz HERZLICHES DANKESCHÖN!


Im heutigen Editorial geht es – passend zur kommenden Zeit der Besinnung – um den ursprünglichen osteopathischen Geist. Lassen wir hierzu ihren Entdecker A.T. Still die einleitenden Worte sprechen:

„Dieser Krieg wird nicht um Eroberung, Berühmtheit oder Macht geführt...“ [StK, S. 145]

Still lässt gleich zu Beginn keinen Zweifel, dass sich Osteopathie primär nicht über äußere Kriterien wie Akkreditierung, Unterrichtsstunden, Anerkennungen, Titel, Urkunden etc. definiert. Auch der Umfang an klinischem Wissen oder technischem Können, ob man streng ‚Hands-on‘ vorgeht, oder nicht, die Anzahl der Jahre an klinischer Erfahrung, oder die Menge an behandelten PatientInnen spielen hier keine Rolle. Gleiches gilt für die vier bekannten Prinzipien und fünf Modelle, denn sie wurden aufgrund berufspolitischer und wissenschaftlicher – also äußerer – Überlegungen erdacht. All dies ist für die Identität der Osteopathie irrelevant, denn offensichtlich wird der osteopathische ‚Krieg‘ für Still auf inneren Schlachtfeldern ausgefochten. Es geht also um innere Motive der OsteopathIinnen. Und tatsächlich fährt er fort:

„... Es ist ein aggressiver Feldzug für die Liebe, die Wahrheit und die Menschlichkeit...“ [StK, S. 145]

Still schreibt nicht meine Liebe, meine Wahrheit und meine Menschlichkeit‘; er verwendet das überpersönliche ‚die‘. Es geht also nicht darum, ob Ich liebe, weiß oder mitfühlend bin, sondern um Phänomene, die größer sind als der Mensch. Im Gesamtkontext von Stills Schriften lassen sich die drei Kernbegriffe so interpretieren:

  • Liebe im Sinn der Agape

  • Wahrheit als Erkenntnisraum jenseits kultureller oder persönlicher Wahrheitsvorstellungen.
  • Menschlichkeit als Gefühl tiefster Verbundenheit gegenüber allen Menschen.

Das einheitliche Erscheinen dieser drei Grundmotive (es heißt ‘und’, nicht ‘oder’) repräsentiert dabei die eigene mentale Gesundheit als Teil der allgemeinen Gesundheit. Und da für Still Gesundheit grundsätzlich überpersönlichen Ursprungs ist (‚Gottes Apotheke‘), kann auch mentale Gesundheit von OseopathInnen weder aktiviert, geleistet oder besessen werden. Hierzu müssen zunächst die mentalen Läsionen identifiziert und beseitigt bzw. überwunden werden (‘find it, fix it …’). Dann erst kann sich mentale Gesundheit (wieder) in den Menschen natürlicherweise entfalten (‘… and leave it alone’). Ich-Illusionen wie ‚Ich bin ein liebender, Ich bin ein wissender, Ich bin ein mitfühlender Mensch und deshalb bin ich ein guter Mensch’, sind solche Läsionen. Und das einzige therapeutische Werkzeug für die Behandlung derartiger Läsionen benennt Still bei der Beschreibung der Geburtsstunde der Osteopathie (22.06.1874):

„Vor 22 Jahren traf mich ein Schuss nicht ins Herz, ...“ [StK, S. 121]

Damit stellt Still vorweg klar: Liebe und Menschlichkeit als grundlegend ethische Haltung im Geist der Nächstenliebe sind keine osteopathische Domänen. Tatsächlich berufen sich viele Heilkunden darauf. So bleibt nur noch die überpersönliche Wahrheit als entscheidendes Ziel des osteopathischen ‚Feldzugs‘. Und entsprechend vollendet Still den Satz:

“... sondern in die Kuppel des Verstandes (besser: Vernunft). Diese Kuppel war damals in einem armseligen Zustand, um von einem Pfeil mit den Prinzipien der Philosophie durchbohrt zu werden.” [StK, S. 121] Neugier"
OsteopathInnen zeichnen sich also dadurch aus, dass sie vernunftgeleitet nach überpersönlichen Erkenntnissen jenseits aller Glaubenssätze und intuitiver Spekulationen suchen. Sie wollen wissen wie es wirklich ist. Sie wollen die wirklichen Ursachen kennen. Da dies aber die Überwindung der Illusionen des ‚Ich‘ voraussetzt, kommt aus dieser Ecke umgehend heftiger Widerstand. Und so erfordert der ‚Krieg‘ und ‚Feldzug‘ auch bewusste (‚aggressive‘) Entscheidungen und mentale Handlungen in Richtung aufrichtig kritischer Selbstbeobachtung.

Osteopathie beginnt somit für Still mit dem lustvollen, neugierigen und vernunftgeleiteten Ringen der OsteopathInnen mit sich selbst. Nicht um gute TherapeutInnen oder Menschen zu werden. Nicht um PatientInnen zu helfen. Es geht einzig um der Erkenntnisse selbst willen. So sind Sie stets bemüht ihre eigenen mentalen Läsionen zu überwinden, um ihrer eigenen mentale und damit ihrer eigenen allgemeinen Gesundheit willen. (Wie sollten OsteopahInnen in ihren PatientInnen auch Gesundheit finden können, wenn sie diese nicht in sich selbst suchen?)

Folgerichtig ermahnt Still die AbsolventInnen seiner Schule bei der Verleihung der Abschlussdiplome auch nicht mit „Helft euren Patienten!“, „Ehrt eure Lehrer!“, oder „Seid liebend und mitfühlend!“, sondern gibt ihnen den wohlgemeinten Rat:

„Erkenne dich selbst und lebe in Frieden mit Gott!“

Und als besten Prüf- und Schleifstein für dieses stille und bescheidene Ringen mit sich selbst erachtet Still in diesem Kontext jeden Augenblick des banalen Alltags. Denn nicht im Rückzug aus der Welt, sondern erst in den Interaktionen mit ihr und anderen Menschen zeigen sich die inneren Widerstände (mentalen Läsionen) in ihrem vollen Umfang. Deshalb lassen sie sich auch nur im Alltag vernünftig beseitigen. Da es sich hier aber um einen lebenslangen Prozess handelt, muss man sich jeden Tag aufs Neue darauf besinnen.

Aber selbst diese ethisch und mitfühlend untermauerte Besinnung um der Wahrheit und der eigenen Gesundheit willen ist noch kein Alleinstellungsmerkmal für OsteopathInnen. Man findet sie bei vielen HeilkundlerInnen, WissenschaftlerInnen etc. Etwas in der heilkundlichen Geschichte Herausragendes entsteht erst, wenn dieses vernunftgeleitete innere Ringen mit sich selbst zur zentralen Maxime in der osteopathischen Ausbildung, Praxis und Berufspolitik wird und dort entsprechend umfassend Raum einnimmt. Erst dieses öffentliche und mutige Bekenntnis, sich als primär philosophische Heilkunde zu verstehen, war von Beginn an das einzige historisch gut belegbare Alleinstellungsmerkmal der Osteopathie. Und es wird auch das einzige bleiben ...

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In diesem Sinn steht Osteopathie für die beständige Besinnung im Alltag.

Könnte irgendetwas besser zur kommenden Zeit der Stille passen?


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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