EDITORIAL: Somatische Dysfunktion – Begriffsarbeit 'reloaded'


Editorial

Aus dem Newsletter Apr 2022, Nr. 239. © JOLANDOS e.K. 2022

Somatische Dysfunktion – Begriffsarbeit 'reloaded'


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

Osteopathie behandelt die Ursachen, Schulmedizin nur Symptome. Dieses Kernparadigma der Osteopathie findet sich jedenfalls in vielen Informationsmedien zur Osteopathie. Tatsächlich sah ihr Entdecker, A.T. Still, darin auch einen wesentlichen Unterschied zur krankheitsorientierten Medizin. Die Ursache bezeichnete er dabei als Läsion. Ende der 1950er wurde diese Bezeichnung in den USA durch den inzwischen international etablierten Begriff somatische Dysfunktion ersetzt. Wie bedeutsam saubere Begriffsarbeit ist, hatte ich in meinem Newsletter-editorial Läsion ist nicht gleich somatische Dysfunktion an eben diesen Ausdrücken belegt. Dabei konnte gezeigt werden, warum somatische Dysfunktion die Behandlung von Symptomen impliziert und folglich nichts in der Osteopathie zu suchen hätte. Diesen Standpunkt möchte ich im heutigen Editorial mit zwei weiteren Argumenten untermauern:

  1. Soma bezieht sich ausnahmslos auf den physikalischen Körper. Somatische Dysfunktion beschreibt damit eine physikalisch-körperliche Dysfunktion (Es wird ja nicht 'somatisch wirksame Dysfunktion' geschrieben, was weitere Verortungen offen ließe). Nun wirbt die Osteopathie geradezu mantraartig mit ihrer ganzheitlichen Orientierung. Das hieße aber sowohl diagnostisch wie auch therapeutisch nicht nur den Körper, sondern einen allgemeinen Blick zu haben. Nicht zufällig schrieb Still im Geist eines allgemeinmedizinisch denkenden Landarztes: „Das Ziel dieser Einrichtung (Anm.: American School of Osteopathy) ist es…, die bestehenden Systeme der Chirurgie, der Geburtshilfe und allgemeinen Behandlung … zu verbessern...“ [StK, S. I-66].

  2. Dysfunktion wird im Pschyrembel als „Gestörte, unphysiologische oder mangelhafte Funktionsfähigkeit, ...“ definiert. Da Funktionen sich naturgemäß prozesshaft entfalten, impliziert der Begriff ‚Dysfunktion‘ die Vorstellung eines ‚schlechten‘ Naturprozesses im Sinne einer Pathophysiologie. Diesem Naturmisstrauen widersprechen bereits die osteopathischen Gründertexte. In ihnen werden sämtliche natürlichen Prozesse ausnahmslos im Sinne hyper-/hypophysiologischer Anpassungsreaktionen im evolutionsbiologischen Kontext und damit als ‚richtig‘ gedeutet. Das bedingungslose Naturvertrauen der frühen OsteopathInnen basiert gerade auf diesem positiven Verständnis natürlicher Prozesse. Die Vorstellung (natürlicher) Dysfunktionen im Sinne eines ‚Fehlers der Natur‘, den es zu behandeln oder reparieren gilt, wird abgelehnt.

Aachensee"

Schlussfolgerungen

  • Der Begriff ‚somatische Dysfunktion‘ ist aus mehreren Gründen zutiefst unosteopathisch (symptombezogen, körperlich, naturskeptisch) und sollte daher unbedingt durch den alten Läsionsbegriff, oder einen besser reflektierten neuen Begriff ersetzt werden. Das Beispiel zeigt wie wichtig das Hinterfragen zentraler Begriffe ist. In der Osteopathie häufig verwendete Ausdrücke wie Gesundheit, Krankheit, Osteopathie, Leben, Energie, Blockierung, Motilität, Midline, CSR, ‚breath of Life‘ etc. sollten daher auf international-institutioneller Ebene neu reflektiert und ggf. gestrichen, angepasst oder ersetzt werden. Damit würde jene beliebige Begrifflichkeit innerhalb der Osteopathie beseitigt werden, der gerne als ‚bunte Vielfalt‘ verkauft wird.

  • Glossare einzelner Schulen oder Verbände dienen ausschließlich wirtschaftlichen oder politischen Interessen. Die Osteopathiegeschichte hat unzählige mal gezeigt, dass diese Einzelinitiativen der Osteopathie als Ganzes stets mehr geschadet als genutzt haben. Eine ernstgemeinte Begriffsarbeit kann nur innerhalb eines internationalen multizentralen Forschungsprojektes erfolgen, die primär an den Inhalten interessiert sind.

  • Da Begriffsklärung keine Domäne von TherapeutInnen, sondern von PhilosophInnen ist, macht ein Forschungsprojekt ‚Begriffsinventur‘ nur dann Sinn, wenn mit der Osteopathie vertraute PhilosophInnen von Beginn an federführend mit am Tisch sitzen. Klar ausgedrückt: Es ist wenig sinnvoll OsteopathInnen die Begriffsdebatte allein entscheiden zu lassen. Das wäre anmaßend. Einmal umgekehrt gedacht: Was würden Sie davon halten, wenn ein Philosoph nach der Lektüre von ein paar Osteopathie-Büchern meint er wäre ein Osteopath?

  • Osteopathisches Denken und Handeln im klinischen Kontext wird an den meisten Osteopathie-Schulen vorbildlich unterrichtet. Nicht aber die von Still eingeforderten philosophischen Kompetenzen, zu denen auch die bewusste Verwendung der eigenen Sprache gehört. Da Osteopathie Ganzheitlichkeit propagiert und Sprache ein essenzielles Kommunikationsmedium unserer Zivilisation ist, verwundert der häufig unreflektierte Umgang mit Begriffen auch in osteopathischer Forschung und Lehre.

  • Begriffe sind unhinterfragt bedeutungslos. Bedeutend werden sie erst, wenn sie umfassend reflektiert wurden. Nur dadurch ist man in der Lage kritische Fragen gut und ausführlich beantworten zu können. Noch wichtiger: Erst mit dem tieferen Verständnis eines Begriffs bekommt auch die mit ihr verbundene Handlung eine neue Tiefe. Begriffsarbeit, d.h. das gewählte und reflektierte sprechen ist in diesem Sinn mindestens so praxis- bzw. osteopathierelevant wie jede manuelle Technik ...


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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Bildquellen

  • Aachensee: © C. Hartmann, 2017