EDITORIAL: Innehalten und Stille


Editorial

Aus dem Newsletter 12/23, Nr. 245. © JOLANDOS e.K. 2023

Innehalten und Stille

Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

für die europäische Osteopathie stellt Stille ein wichtiges Element insbesondere im Bereich der kraniosakralen bzw. biodynamischen Osteopathie dar. W.G. Sutherland, Rollin Becker, Jim Jeaulous und Tom Shaver gelten hier zurecht als ‚Wegbereiter des Innehaltens‘ innerhalb der Osteopathie seit den 1970ern. Tatsächlich spielt Innehalten und Stille aber schon sehr früh in der Osteopathiegeschichte eine große Rolle. Möglicherweise gäbe es die Osteopathie ohne dieses persönliche Innehalten überhaupt gar nicht. Wie komme ich auf diese Idee? A.T. Still reitet im Winter zu einer Patientin

Stellen Sie sich vor, Sie verbringen die prägenden Jahrzehnte ihres Lebens in Mitten einer wilden und ursprünglichen Natur. Dort sind sie unzählige Tage und Nächte im Freien, zu Pferd oder zu Fuß und vor allem allein unterwegs. Stellen Sie sich weiterhin vor, sie glauben daran, dass die Natur, die Menschen, sie selbst, ja eigentlich das gesamte Universum der vollkommene Ausdruck einer intelligenten Schöpfung ist. In tausenden stillen Abendstunden, schlaflosen Nächten und Morgenröten sind Sie mitten drin in dieser Unendlichkeit. Beobachtung (Empirie) und eigenständiges und systematisches Reflektieren (Ratio), die sie tagsüber erfüllen, begeistern und Ihren unstillbaren Wissensdrang leiten, ermüden nun. Ihr Geist kommt zur Ruhe. Sie halten inne.

Nun wird Ihr Blick zum Schauen; Beobachtung wandelt sich in Betrachtung; Verstehen in demütiges Staunen; Wissen in Spüren. Dasein verwandelt sich in Hiersein. Und irgendwann herrscht friedliche Stille. Mit jeder einsamen Abend- und Morgenstunde, jeder schlaflosen Nacht, in denen wir die Verzauberung bewusst erleben, wird das geschäftige Beobachten und Reflektieren des Tages ein kleines bisschen mehr von dieser Stille durchdrungen. Universum

So entsteht in uns eine Philosophie der Welt. Eine Philosophie, die wir auf die Ebene der Heilkunde mühelos übertragen können, um daraus wiederum konkrete Handlungen abzuleiten. Eine nun heilkundliche Philosophie. Ein Philosophie der Osteopathie vielleicht?

Mag sein, dass es dem Entdecker der Osteopathie so ergangen ist. Mag sein, dass seine Philosophie der Osteopathie – und damit die Osteopathie als Ganzes – so entstanden. Seine Biografie, seine Persönlichkeit und sein schriftlicher Nachlass weisen in diese Richtung. Sicher werden wir es natürlich nie wissen ... Aber wäre es nicht ein schöner Gedanke – gerade in Blick auf die kommenden Feiertage: Innehalten und Hiersein als leuchtender Nährstoff in den Adern des Baumes der Erkenntnis, dessen Früchte die lebendige Verbindung aus Verstehen und Erspüren darstellen? Und all dies als Identitätsmerkmal der Osteopathie?


In diesem Geist der Verbundenheit möchte ich mich auch dieses Jahr wieder für Ihre Treue, ihr Interesse und Ihre Geduld bedanken! Ich erlebe all das als großes Geschenk und hoffe Ihnen mit meinen kleinen Geschichten und den JOLANDOS-Büchern ein wenig davon zurückgeben zu können.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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