EDITORIAL: Über Ursachen, Symptome und Eintrittspforten


Editorial

Aus dem Newsletter Okt/Nov 2023, Nr. 243. © JOLANDOS e.K. 2023

Über Ursachen, Symptome und Eintrittspforten


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

in letzter Zeit haben sich aufgrund meiner ‚Stille in der Szene‘ die Nachfragen gehäuft. Deshalb hier ein kurzes JOLANDOS-update:

Seit Anfang 2021 habe ich mein Seminar Historisch reflektierte Osteopathie komplett überarbeitet und erweitert. Daraus entstand eine 34-stündige Vortragsreihe bestehend aus 26 Video-Modulen, die ich seit Mai selbst aufgenommen und bearbeitet habe. Parallel hierzu entwickle ich seit Mitte 2021 ein Schulportal zur besseren online-Integration der Vortragsreihe in den Unterricht. Für das nun erstellte Videomaterial (hinzu kommen Vorträge, Buchbeschreibungen, Editorials etc.) suche ich gerade passende Streamingportale. Und diese Woche starte ich noch die Entwicklung einer neuen Website mit einer Infothek, um ab Januar 2024 Bücher und Videos unter einem neuen und zeitgemäßen Dach präsentieren zu können. Da ich das meiste dieses Gesamtprojekts ‚JOLANDOS 2.0‘ selbst erledige, musste das übliche Verlagsgeschäft ein wenig ruhen. Aber keine Sorge, wie sagte der rosarote Panther so schön: „Ich komm wieder, keine Frage!" Und das mit einem übervollen Rucksack für Sie... 😉

Im Zuge der Überarbeitung der Thematik ‚Historisch reflektierte Osteopathie‘ sind mir immer viele faszinierende und neue Aspekte und Fragen begegnet. Eine der spannendsten möchte ich in diesem Editorial kurz beleuchten: A.T.

A.T. Still sah den entscheidenden Unterschied zwischen seiner Philosophie der Osteopathie und der allopathischen Heilkunst in der Tatsache, keine Symptome, sondern die Ursache der Symptome zu behandeln. Er prägte in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Läsion‘. Sein kausaler Ansatz beruht dabei auf sorgsamen Beobachtungen und logischen Schlussfolgerungen und ist damit grundlegend empirisch. ( Transzendenz spielt für ihn in der osteopathischen Praxis nur insofern eine Rolle, als er den eigentlichen Heilprozess und damit die Heilverantwortung einer schöpferischen Intelligenz zuschrieb.)

Im kausalen Denken, das seit der Hippokratischen Heilkunst die gelehrte Heilkunst prägt, unterscheidet sich Stills Philosophie der Osteopathie also nicht von der allopathischen Heilkunst. Wohl aber im Handeln. Und das liegt an einer fundamentalen Fehldeutung. Um dies zu verstehen ist – wie immer – historisches Hintergrundwissen notwendig:

Ab der Renaissance begannen Anatomen unterschiedliche Symptomkomplexe in Krankheitsbegriffen zusammenzufassen, um sich im Netzwerk der entstehenden europäischen Universitäten besser austauschen zu können. Aufgrund zuvor jahrhundertelanger Prägung durch die katholische Dogmatik mutierten diese Begriffe in der Wahrnehmung schleichend zu ‚bösen Dingen‘, die es zu ‚bekämpfen galt (Stichwort: Solidarpathologie ). Da die Grundlage dieser ‚Wesen‘ real existierenden Symptome waren, lautete der logische Auftrag: Bekämpfe die Symptome und die ‚böse Krankheit‘ ist besiegt. Diese Schlussfolgerung ist zwar kausal und damit rational, sie basiert aber auf einer irrationalen Fehldeutung, denn Krankheiten sind keine Wesen, sondern nur Begriffe (die Zusammenhänge erörtere ich umfassend im ersten Teil meiner Vortragsreihe). Dies erklärt schlüssig, warum die gelehrte Medizin von nun an zunehmend krankheitsorientiert war. Böser

Beschleunigt durch nationalistische Strömungen im Europa des 19. Jh (Militarisierung des Denkens) und dem Triumph der Keimtheorie (Zementierung der Vorstellung ‚natürlicher Feinde‘), wurde die irrationale Fehldeutung ‚Krankheit sind böse Feinde‘ im 20 Jh. zum Wesenskern der Gesundheitssysteme, Rollenbilder, medizinischer Studien, berufspolitischer Verhandlungen, Algorhithmen der Versicherungen etc. Weit mehr: Sie beherrschte das gesamtkulturelle Denken, wenn es um ‚gute‘ Therapie ging. Das Motto lautet(e):

Kausal denken, symptomatisch handeln!

Nun verwendet aber auch Still häufig Begriffe wie ‚Krankheit‘, ‚bekämpfen‘ oder ‚Feind‘. Ist er deswegen ein Allopath? Oberflächlich betrachtet liegt dieser Schluss nahe. Erst das sorgfältige transdisziplinäre Studium seiner Texte offenbart, dass er Krankheiten keineswegs als eigenständige Einheiten betrachtete. (Über die Tatsache, dass Still gerade hier begrifflich unsauber wird, kann nur spekuliert werden. Wollte er seine Leser im deren kulturell geprägten Verständnis ‚abholen‘, damit sie ihm überhaupt erst zuhörten? War er sich – wie nahezu alle von uns TherapeutInnen – sich nicht bewusst, dass die sorgfältige Reflexion zentral verwendeter Begriffe von fundamentaler Bedeutung ist? Wir wissen es nicht.)

Still interessierte sich also nicht für Krankheiten. Was aber hat er dann behandelt? Es zeichnet Stills Ernsthaftigkeit im Denken aus, dass er sich an dieser Stelle nicht mit einem völlig unreflektierten ‚den ganzen Menschen‘ abgab. Er wollte stets genau verstehen, um seine Handlungen damit stichhaltig begründen zu können. Werden wir seiner Ernsthaftigkeit gerecht und schreiten wir ebenso mutig wie logisch voran:

Akzeptieren wir, dass Krankheiten nur Begriffe sind, kommt den Symptomen eine völlig neue Bedeutung zu. Jetzt führen sie nicht aus der physikalischen Realität zu metaphysischen Begriffen, sondern dienen sie als Eintrittspforte in eine tieferliegende und sie begründende physikalische Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Ursachen, die es mit hervorragenden Kenntnissen, geschulten Sinnen (Empirie!) und eigenständigem Denken zu erschließen und zu behandeln gilt. Kurz gesagt: Fragendes

Kausal denken, kausal handeln!
VORSICHT: nicht ätiologisch , denn dies bedeutet in der Medizin die Lehre von den Ursachen für das Entstehen einer Krankheit.


Nebulös zu behaupten, man behandle ‚den ganzen Menschen‘ stellt somit einen unreflektierten Rückschritt gegenüber Stills ernsthaften Versuch dar, die Welt zu verstehen und zu enträtseln. Ein echter Fortschritt wäre hingegen, sich jenen Fragen zu widmen, dich sich nun geradezu aufdrängen: Wann ist etwas eine Ursache? Wie geht man mit der schier unendlichen Komplexität um, wenn man schließlich erkennt, dass sich von einem Symptom der Ursachenbaum schnell ins Unendliche verzweigt? Oder es stellen sich neue Herausforderungen: Ursachen gehen im allgemeinen Verständnis den Symptomen zeitlich voraus und sind somit stets Vergangenes. Wir Menschen können aber keine Zeitreisen machen und folglich nur Gegenwärtiges behandeln. Logischer Schluss: In der Gegenwart können keine Ursachen behandelt werden. Und wenn Ursache und Wirkung zugleich existieren (Stichwort: Quantenkorrelation)? Was ist dann mit Ursachen, die tatsächlich vergangen sind? Sind das dann noch Ursachen? Oder müssen wir vielleicht für ‚gegenwärtige Ursachen‘ einen neuen Begriff finden? Vielleicht Bedingungen? etc. etc.

Sie sehen: Wieder geht es um große Fragen (und Begriffsklärung). Und damit führt uns der Weg hinter den Eintrittspforten nicht nur zu den Wirk-Ursachen, sondern auch tief ins philosophische Land. Zufall? Wohl kaum. Wurzelt Stills Philosophie der Osteopathie doch selbst in den großen (philosophischen) Fragen der Menschheit, wie etwa Was ist Leben?, Was ist Tod?, Was ist der Mensch? etc. Für die gegenwärtige Osteopathie gilt folglich: Meidet man diese Fragen und meint diese hätten in der osteopathischen Praxis, Berufspolitik, Ausbildung und Wissenschaft keinen Platz, schreitet man nicht voran, sonder fällt zurück – weit vor die Zeit A.T. Stills ...


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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