EDITORIAL: Nichts Neues unter der Sonne!


Editorial

Aus dem Newsletter Feb 2022, Nr. 238. © JOLANDOS e.K. 2022

Nichts Neues unter der Sonne!


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

„Es gibt nicht Neues unter der Sonne.“ (Koh. 1,9)

Diese bereits vor fast 3000 Jahren im Alten Testament niedergeschriebene Weisheit trifft auch auf die Osteopathie zu. Deutlich wird das erst, wenn man den schönen Kontinent Osteopathie verlässt, zum Beispiel zum Mond fliegt und im historisch distanzierten Blick erkennt, dass Osteopathie nur einer von mehreren Kontinenten auf der Erde ist. Damit wird schnell klar, dass viele der scheinbar einmaligen Ideen der Osteopathie auch auf anderen Kontinenten, d.h. in anderen Heilkontexten und zu anderen Zeiten bereits umfassend erschlossen und durchdacht wurden.

Es gibt OsteopathInnen, die ausschließlich mit dem Alltäglichem in der Gegenwart beschäftigt sind. Sie ersparen sich die Unbequemlichkeit, über ihr eigenes Denken und Tun im größeren Kontext nachzudenken. Das ist nur allzu menschlich. Ihnen ist das Gewesene und damit auch dessen Bedeutung für ihr gegenwärtiges Sein nicht so wichtig.

Dann gibt es OsteopathInnen, die nach dem Motto "An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!" (1. Johannes 2,1-6) leben. Sie knüpfen ihren Wert, ihre Identität und ihren Status in der Gesellschaft an ihr Handeln. Je einzigartiger und besonderer es ist, um so stärker ist ihr Gefühl, ein guter Mensch zu sein. Auch verständlich, handelt es sich doch um ein durch die christlich-kirchlichen Dogmen historisch tief geprägtes Verhalten in europäischen Kulturen. Konsequenterweise verlassen sie ihren Kontinent nicht, denn sie ahnen: das für Sie Einzigartige und Besondere entpuppt sich aus höherer (historischer) Perspektive möglicherweise als Altbekanntes. Dieses Leben ist nicht einfach, verwenden sie doch viel Lebensenergie darauf, die eigenen Überzeugungen durchzusetzen und zu verteidigen, um jegliche innere Erschütterung zu vermeiden.

Und es gibt OsteopathInnen, deren Leben vom beständigen Wandel bestimmt werden. Gewohnheiten, Illusionen und Überzeugungen entstehen und vergehen, ohne dass ihr Selbstwertgefühl davon berührt wird. Diesen Menschen begegnet man häufig auf dem Mond. Sie sind jedesmal fasziniert, wenn sie auf anderen Kontinenten vermeintlich "Osteopathisches" entdecken. Gleich im Wesen, aber anders in ihrer formalen und begrifflichen Erscheinung. Diesen Menschen ist das Fremde Quelle, um das Vertraute besser zu verstehen.


Mond und Erde

Vom Mond aus erkennt man: Weder waren A.T. Still mit seinem vermeintlichen „fließenden“ Ansatz, noch W.G. Sutherland oder Rollin Becker mit den Modellen des 'Breath of Life', 'Stillpoint' oder 'Rhythmic Balanced Interchange' die Ersten, die sich mit metaphysischen oder energetischen Phänomenen im therapeutischen Kontext beschäftigten. Bereits in der galenischen Medizin vor fast 2000 Jahren galt beispielsweise ein belebender Geist (pneuma psychikon) als maßgeblich für Gesundheit. Mit dem Einfluss der christlichen Dogmen verschwand die Beschäftigung mit metaphysischen Themen in der Medizin während des Mittelalters, um in der Renaissance erneut aufzublühen. Als man im 18. Jh. den Elektromagnetismus und die Schwingungen entdeckte und untersuchte, entstand ein wissenschaftliches Interesse an der Verbindung zwischen der physikalischen und der metaphysikalischen Welt. Emanuel Swedenborg (1688–1772) und Anton Mesmer (1734–1815) spielten hierbei in Europa eine große Rolle. Ohne die beiden wären Animalische Magnetismus, Hypnose, Spiritismus und das Geistheilen im 19. Jh., aber auch die heutige Psychologie, psychosomatische Medizin und moderne energetische Behandlungsansätze nicht denkbar.

Inwieweit Still von den Arbeiten Mesmers und Swedenborgs beeinflusst war, kann nicht mehr eindeutig geklärt werden. Tatsache ist, dass Still die meiste Zeit seines Lebens in Kirksville lebte, einem damaligen Epizentrum des von Swedenborgs Schriften stark inspirierten Spiritismus. (Still soll an einer Seance teilgenommen haben und schrieb auch einen Artikel für eine spirtistische Zeitung. Darüber hinaus warb er in den 1870ern für sich als Magnetiseur.)

Dass W.G. Sutherland u.a. auch durch die Arbeiten Swedenborgs stark beeinflusst wurde, gilt inzwischen als gesichert (s. hierzu v.a. Osteopathie und Swedenborg von David Fuller). Maßgebliche Prinzipien der Kraniosakralen Osteopathie finden ihre Grundlage in Swedenborgs Abhandlungen über das Gehirn. Die nach Sutherlands Tod von Rollin Becker weiterentwickelten energetischen bzw. metaphysischen Aspekte finden ihre Wurzeln damit zumindest teilweise auch in Swedenborgs Arbeiten.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de


Bildquellen

  • Mondblick: gemeinfrei