EDITORIAL: Denken, Handeln und der Wert des Menschen an sich


Editorial

Aus dem Newsletter Dez 2021, Nr. 237. © JOLANDOS e.K. 2021

Denken, Handeln und der Wert des Menschen an sich


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

„Er [Anm: der Osteopath] weiß, dass die Menschen mehr als Raten von der Osteopathie erwarten. Er weiß, dass er die Hand auf die Ursache legen und durch sein Tun beweisen muss, was er sagt.“ (1)

Mit diesem Zitat benennt A.T. Still gleich drei Wesenszüge der Osteopathie: (a) Sie basiert nicht auf Spekulation, (b) es geht bei ihr um eine kausale und nicht symptomatologische Vorgehensweise und (c) ihre Richtigkeit muss in der physikalischen Wirklichkeit bestätigt werden. Während die ersten beiden Punkte die streng vernuftbasierte Vorgehensweise bei Still unterstreichen, spiegelt der dritte Punkt den Pragmatismus der Grenzländer Amerikas Mitte im 19. Jhdt. Nicht schön klingendes Geschwätz, liebgewonnene Meinungen, oder titelgeschwängerte Theorien sicherten das Überleben, es galt nur, was praktisch anwendbar war und funktionierte. Da Still in einer streng methodistischen Gemeinde aufwuchs, könnte man meinen, er vertrete dabei folgende Aussage im Johannes-Evangelium:

„An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ (2)

Nichts aber könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst historisch weit ausholen.

In der platonischen Philosophie gehörten das Wesen oder die Seelenanteile des Menschen zur ewigen geistigen Welt der Ideen. Das damit in allen Menschen kernhaft vorhandene ‚Ideal Mensch‘ konnte dabei durch nichts Weltliches vermindert werden. Das Denken oder Handeln eines Menschen in seiner irdischen Daseinsform hatten also keinen Einfluss auf das unberührbare 'Ideal Mensch' in ihm. Die Konsequenz: Wer gut handelte, handelte vernünftig, wurde dadurch aber nicht automatisch als bessererer Mensch 'an sich' erachtet – und umgekehrt. (Hierauf beruht übrigens auch unsere moderne Gesetzgebung, bei der ein Mensch nicht verurteilt wird, weil er 'gut' oder 'böse' ist, sondenr allein aufgrund seiner Tat, die er begangen hat.)

Die Trennung von Denken bzw. Handeln und dem Wert eines Menschen wurde mit dem Untergang des Römischen Reichs im 5. Jhdt. durch die kirchliche Dogmatik des Christentums sukzessive verdrängt. Es folgte damit auch eine rund 1500 Jahre tiefe Prägung im Geist der o.a. 'johannitischen Verschmelzung'. Die Maxime lautete nun: Tust du ‚Gutes‘ (im Sinne der gesellschaftlich dominierenden Moralvorstellung) bist du automatisch ein guter Mensch an sich – und umgekehrt. Denken und Handeln bestimmen nun den bislang unantastbaren Wert des Menschen an sich.

Eine so lange und tiefe religiöse Prägung geht an keiner Kultur spurlos vorüber. Die ‚johannitische Verschmelzung‘ scheint fester Bestandteil unseres kulturellen Unterbewusstseins geworden zu sein. Man beachte nur, wie stark sich momentan dogmatische Impfgegner und -befürworter gegenseitig aufgrund ihres Verhaltens als Menschen abwerten. Auch der Glaube daran, dass therapeutische Erfolge einen zu einem besseren Menschen machen unterliegen der 'johannitischen Verschmelzung'). Sie führt auch dazu, dass Sätze von Still wie der folgende schnell missdeutet werden: Still"

„Der Mediziner harrt mit seinem kleinen Buch der Symptomatologie aus und verabreicht Arznei und tötet Neugeborene ebenso schnell wie vor tausend Jahren.“ (3)

Schnell säuselt das Unterbewusstsein: 'Was für ein schlechter und dummer Mensch, diese Mediziner. Vor denen muss man die Menschen schützen. Sie sind eine Bedrohung, usw.' Da ist sie, die Abwertung des Menschen an sich. Praktischer Nebeneffekt: Mit ihr entsteht ein freier Platz in der gegenüberliegenden Waagschale, die die säuselnde Stimme nur allzugerne bestezt. 'Ich mache sowas nicht. Deshalb bin ich ein Guter'. Therapeutisch übertragen bedeutet diese Haltung: Gesundheit kann nur entstehen, wenn man Krankheit identifiziert und ihr zuwider (also allopathisch) denkt und handelt. Nichts könnte unosteopathischer sein. Und damit ist folglich auch nichts unosteopathischer als Andersdenkende und -handelnde abzuwerten. Kein anderer hat das mehr vorgelebt als Still. Tatsächlich beschreibt er im letzten Zitat lediglich das Denken und Handeln eines (Schul)mediziners und die daraus für ihn logischerweise resultierenden Folgen. Aber wertet er die Mediziner deswegen auch ab? Viele andere Textstellen wie die beiden folgenden widersprechen hier vehement:

„Ich möchte sagen, dass ich die alten Mediziner wegen ihrer Treue liebe. Ich bedaure sie aber auch für ihr vollständiges Versagen. Ich weiß, dass sie gute Absichten hatten.“ (4)

„Wir lieben jeden Mann, jede Frau, jedes Kind unserer Rasse.“ (5)

Baum
Statt die Mediziner als Menschen abzuwerten, verbindet er sich vielmehr zutiefst empathisch mit ihnen (Still war ja selbst auch Landarzt). Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie überlebenswichtig Tugenden wie Treue und Loyalität waren, um im Grenzland des Mittleren Westens überleben zu können. In diesem Treuegefühl erkennt er sich sympathisch wieder. Auch deshalb ist sein Bedauern nicht abwertend, sondern zutiefst mitfühlend. "[...] dass Sie gute Absichten hatten." unterstreicht dies noch einmal. Wir alle versuchen nur unser Bestes.

Diese bedingungslose Menschenliebe ist nur einer von vielen Ausdrücken seines ebenfalls bedingungslosen Glaubens an eine vollkommene Schöpfung. Damit ist sie auch ein zentraler Aspekt in seiner Philosophie der Osteopathie und folglich gehört die Bewusstwerdung und Überwindung der ‚johannitischen Verschmelzung‘ zwingend zum Wesensmerkmal jener Menschen, die sich als 'echte' OsteopathInnen verstehen. Nicht umsonst ermahnt Still seine SchülerInnen und die OsteopathInnen immer wieder zur Selbstreflexion und regt sie und uns mit Anekdoten aus seinem Leben zum eigenständigen Nachdenken auch über unsere Haltung zu anderen Menschen an.

Und es ist genau diese Fähigkeit, andere Menschen und sich selbst nicht aufgrund des Denkens und Handelns moralisch als Menschen an sich zu bewerten und zu verurteilen, es ist dieser zentrale Kernaspekt der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie, den wir alle momentan dringend gebrauchen können. Gerade in den Feiertagen während der Pandemie. Und wer könnte es besser vorleben als die VertreterInnen der Osteopathie, deren Profession in dieser Haltung wurzelt.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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